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Wandlungen in der weltanschaulichen Szene bezüglich Krankheit, Sterben, Trauer

(nach dem Muster von Tony Walter 1994 *)

  1. Traditionelle Zeit

Über eine lange Zeit der Menschheitsgeschichte boten Religionen und die dazugehörigen gesellschaftlichen Kulturen die wichtigsten Verarbeitungsmöglichkeiten für das Schicksal.

Die längste Zeit der Geschichte gab es keine Medizin gegen schwere Krankheiten. Medizin war allenfalls „Palliativmedizin“.

Die Deutung und damit die Sinngebung für das Schicksal lieferte und garantierte die religiöse Kultur. Das Bewältigungsmittel für das Schicksal war der religiöse Glaube und die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft. Die gesellschaftliche Kultur war mit der religiösen Kultur eng verwoben durch die Feier der Kasualien, durch Feste und gemeinschaftliche Liturgien und Feiern. Dazu gehörten auch die Rituale: alles war Regel und Ordnung; Rituale garantierten die „gute Ordnung des Lebens“. Nicht die Glaubensvorstellung des Einzelnen musste dem Schicksal standhalten, es gab ja das Reservoir der Gemeinschaft. Das Schicksal des Menschen war in einem gemeinsam geteilten Sinnkosmos aufgehoben. Auch das „Psychosoziale“ war in dieser gemeinschaftlich organisierten Welt aufgehoben: die emotionale und soziale Dimension war in Nahbeziehungen, in der Gemeinde und in Nachbarschaften aufgefangen.

Damit gab es eine „Sprache“ und eine Auffangkultur, um gemeinsam die Räume von Krankheit, Sterben, Trauer zu begehen und damit dem Schicksal zu begegnen. In einem gewissen Sinn ist dies als „ganzheitlich“ zu bezeichnen.

Die „Sinngebung“ für das Schicksal war auf diese Weise gewährleistet; sie musste vom Einzelnen nicht eigens gefunden werden. Eine Sprache für das Existenzielle war nicht eigens notwendig. (Wohl haben Philosophen, Poeten etc. existenzielle Fragen gestellt und bearbeitet, aber nicht der normale Gläubige.)

Fazit: In der traditionellen Zeit brauchte „die“ Sinnfrage nicht gestellt zu werden, sie war durch das religiöse und gesellschaftliche Milieu ausreichend, sozusagen implizit „beantwortet“.

  • Zeit der Moderne

Sie beginnt bereits im 19. Jahrhundert, wo die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der modernen Medizin gelegt wurden. Diese wurden allerdings erst im Lauf des 20 Jh. Allgemeingut und damit Paradigmen-bestimmend.

Die Deutungshoheit am Kranken- und Sterbebett übernahm allmählich die Medizin. Sie behandelte den „Körper ohne Seele“, weil das ihre instrumentelle Logik nicht anders hergab. In dieser Sprache der (naturwissenschaftlichen) Experten gab es keine Möglichkeit mehr, das Existenzielle zu benennen und zu kommunizieren. Allenfalls am Ende des Lebens gab es noch eine „Stabübergabe“ an die Religionsvertreter. Diese sollten den Übergang in ein „Nachher“ ermöglichen. Damit hat die naturwissenschaftliche Weltsicht „Religion“ (und andere „höhere Gedanken“) am Krankenbett überflüssig gemacht. Religion konnte in dieser Logik ja sowieso nichts zu Heilung beitragen. Das war das Geschäft der Medizin. Und die hatte unglaubliche Erfolge im Kampf gegen Krankheiten und psychische Störungen aufzuweisen.  Alle Unsicherheiten des Lebens schienen jetzt mit Wissenschaft und Technik beseitigt werden zu können, das Schicksal scheint abwendbar; der Tod schien beherrschbar geworden. Die frühere „Ganzheitlichkeit“ ist aufgehoben, nur noch fachbezogene Perspektive.

Im Gefolge dieser Entwicklung zog sich die Religion immer mehr ins Jenseits zurück. Sie sorgte für das Heil der Seele im Jenseits: sie behandelte die „Seele ohne Körper“. Die „Seele“ wurde körperlos und damit in gewissem Sinn leidfrei; sie sollte sich eher aufs Jenseits freuen. Damit wurde in der Religion das irdische Leiden und Sterben übergangen. 

Für Leiden, Sterben und Trauer gab es jetzt keinen „Ort“ und keine Zuständigkeit mehr. Die Logik der Medizin und der Naturwissenschaft kannte keine Sprache für das Existenzielle. Die Religion konnte allmählich keine Auffangstruktur mehr bieten. Der Mensch musste sozusagen „nackt“ Krankheit und Trauer durchleben; er war entkleidet von Sinngebungen, gemeinsamen Ritualen, Symbolen, Wertungen und sozialen Einbettungen. Zuwendung, Anerkennung, Bedeutung, Trost etc. wurden zur Privatsache.

Fazit: Die Sinn- und andere Fragen konnten (und sollten) nicht gestellt werden, weil das die instrumentelle Logik nicht hergab und die Medizin dafür keine Sprache hatte.

  • Zeit des Übergangs von der Moderne zur Postmoderne

In der Zeit der Psychologisierung im Lauf der 60/70iger Jahre wurde das „missing link“ zwischen Körper und Seele „entdeckt“ und zum Thema von Wissenschaft und Gesellschaft gemacht. Prototypisch: die Beschreibung von Sterbephasen durch E. Kübler-Ross und andere. Damit wurde klar (was die Menschen schon immer gewusst haben): dass bei Krankheit und Sterben ja auch etwas im Inneren des Menschen geschieht. Das, was die Medizin der Moderne und die Religion der Moderne als Lücke hinterlassen hatten, besetzte jetzt die Psychologie. An die Stelle der „Seele“ trat jetzt die „Psyche“: Die „Sterbephasen“ waren psychologisch-psychiatrisch formuliert (Kübler-Ross war Psychiaterin) nicht existenziell-spirituell. Auch die Seelsorge musste jetzt lernen, dass die Seele nicht ohne Psyche zugänglich war und eigene Zugangsweisen brauchte. Es kam die Zeit der Gefühle, der Begleitung, der psychosozialen Betreuung, der therapeutischen Seelsorge … .

 Der große Gewinn dieser Übergangszeit: Die Innenseite des Menschen kam (wieder) in den Blick: seine Gefühlswelt, aber auch die existenzielle Auseinandersetzung mit seinem Schicksal. Damit wurde die Tür zur ganzheitlichen Sicht auf den Menschen aufgetan. Mit „Kübler-Ross“ begann eine Re-Humanisierung des Sterbens.

  • Zeit der Postmoderne

„Postmoderne“: auch „zerfließende Moderne“ (Z. Baumann). D. h. die Werte der vorhergehenden Zeit zerfließen und damit auch die Werte, an die sich Menschen bisher gehalten haben (auch z. B. die Bedeutung von sozialen und familiären Rollen). Es gibt kein allgemein verfügbares Werte- und Sinnpotenzial mehr. Zugleich sind Menschen heute anders als früher mit Sterben, Tod und Trauer konfrontiert als früher.

  • Statt der kosmischen Ordnung die fragile Ordnung der Biografie und Identität
  • Pluralisierung der Lebens- und Weltdeutungen geht weiter: Jeder muss seine eigenen Deutungen und seine eigene „Bedeutung“ finden.
  • Authentizität und Autonomie als zentrale Werte.
  • Vergemeinschaftung geschieht nicht mehr normativ, sondern nur noch situativ.
  •  Individualisierung: Jeder ist selbst verantwortlich für sein Schicksal. Ebenso für seine Sinnfindung: der postmoderne Mensch will sich keine Deutungen mehr vorschreiben lassen; zugleich kann er Sinn nicht mehr aus einem allgemein gültigen Sinnreservoir schöpfen. Er will und muss selbst herausfinden, was für ihn Sinn in Krankheit und Sterben ist. Sinn muss z. B. im Alter und in verschiedenen Situationen des Lebens immer wieder neu generiert werden.
  • Jeder ist sein eigener Konstrukteur seiner Lebensgeschichte. Lebens-, Berufs- Beziehungs-Biografien werden fragmentiert.
  • Bezüglich der „Identität“: Der Mensch der Postmoderne ist seine Biografie (d. h. was er aus sich macht); Menschen früherer Zeit hatten eine Biografie (ansonsten waren sie Menschen).
  • Das wirkt sich auch aus auf ethische Entscheidungen (selbstbestimmtes Behandlungskonzept, selbstbestimmtes Sterben … ), objektive medizinische Kriterien reichen nicht aus. „Ethik“ notwendig.
  • Zugleich als Antwort auf die „Entkleidung“ des Menschen Forderung nach Ganzheitlichkeit: „Total Pain“ braucht ganzheitliche Wahrnehmung und Versorgung (Palliative Care): physische, psychische, mentale, emotionale und spirituelle Dimension müssen in Begleitung und Versorgung einbezogen werden.
  • Damit gehört auch die „spirituelle Versorgung“ (Spiritual Care) in das Aufgabenspektrum aller patientenversorgenden Berufe und Tätigkeiten.
  • Rituale werden wieder wichtig und angesichts des Nichtmachbaren und Unsagbaren neu geschätzt. Zugleich werden Rituale privatisiert und damit beliebig. Sie verlieren ihre Tiefendimension und damit ihre Tiefenwirkung.
  • Der Patient im Focus: „patientenzentriert“. Das gilt auch für seine Religiosität, Spiritualität und Weltanschauung.
  • Zwischenfazit: In der Zeit der Tradition brauchte die „Sinnfrage“ nicht eigens und explizit gestellt werden; in der Moderne konnte sie (und sollte sie) nicht (mehr) gestellt werden; in der Postmoderne muss Sinn neu und von jedem selbst gesucht und gefunden werden. Der neu im medizinischen und therapeutischen Kontext aufgetauchte Begriff „Spiritualität“ gilt inzwischen als vorzügliche Quelle für Sinnfindung.

Wandlungen in der religiös-weltanschaulichen Szene:

  • Anthropologische Orientierung: der Mensch und sein existentielles Betroffensein, seine Lebensgeschichte, nicht die Religion ist entscheidend
  • Abkehr von Traditionen, Ent-institutionalisierung, allgemeine Sinninstanzen nicht mehr akzeptiert
  • Bindungen an religiöse Gemeinschaft / Konfession werden geringer
  • Keine Naivität im religiösen Glauben mehr; frühere Plausibilitäten nicht mehr geteilt. Damit wird auch die Plausibilität des Glaubens für einzelne Menschen geringer.
  • Die traditionelle Sprache von Kirchen und Religion reicht nicht mehr aus. Suche nach neuer Gegenwartsfähigkeit des Glaubens notwendig
  • Neue Mythen und neue Versuche zur Wiederverzauberung der Welt.
  • Viele Sinn-Anbieter
  • Autonomie in Religion und Weltanschauung
  • Kein religiöses Gesamterleben mehr
  • Alles auch psychologisch und hirnphysiologisch deutbar?
  • Positiv gewendet:  Mit „Spiritualität“ wird wieder eine wesentliche Erfahrung und Einstellungsweise benennbar, für die in der Zeit der Moderne Sprache und Kategorie verlorengegangen waren. „Spiritualität“ wird zur Schlüsselkategorie für Bedeutung und Sinn in der Spätmoderne. Eine Basis-fähigkeit zur Sinnstiftung, die man allen Menschen zuschreiben muss. Demokratisierung der Mystik, Entgrenzung des Religiösen, „natürliche Religion“. „Spiritualität ist zu einem Welt-Wort geworden für das, was Sinn, Religion, Religiosität und deren Transformationsprozesse ausmacht. (Polak, Regine, In: Leidfaden 1/ 2016)

Bezüglich der Seelsorge: Sie muss heute von Individuum zu Individuum geleistet werden, ohne die frühere Auffangstruktur. In der „Übergangszeit“ kommt es zu einem „psychological turn“, in der Postmoderne zu einem „spiritual turn“.

*Walter T, The revival of death, London/New York 1994