– Zur Anthropologie und Ethik der Anatomiearbeit
In Deutschland ist der Präparierkurs ein verpflichtender Teil der Medizinerausbildung. Dieser Kurs wird von den Studierenden und – im späteren Rückblick – von Ärzten als wichtiger und extrem herausfordernder Bestandteil ihrer Ausbildung und ihres Arztwerdens erlebt. Er gilt als Initiation zum Arztberuf. Mit dem Kurs ist ein einschneidendes emotionales, mentales und auch spirituelles Erleben verbunden.
Da verwundert es, dass – abgesehen von einer Trauer- bzw. Gedenkfeier am Ende des Semesters (an ca …% der Universitäten) – den Studenten nur das sachlich-rationale Lernen ermöglicht wird. Die ethische Dimension wird auf die Beachtung der Würde der Toten reduziert und nur appellativ eingefordert: Wenn den Studierenden nur bewusst ist, dass es bei dem Leichnam um eine verstorbene Person geht, werden sie sicher pietätvoll damit umgehen. – Es muss aber erheblich bezweifelt werden, ob die beiden Dimensionen „Einsicht“ und „Appell“ der hohen und komplexen Bedeutung für das Erlernen des Arztberufs gerecht werden. Schließlich geht es um wesentlich mehr als das Fakten lernen an einem toten Körper – sowohl für die Studenten und Wissenschaftler wie für die Spender selbst, und ihre Angehörigen, als auch für die Wertevorstellung einer Gesellschaft.
Die Anthropologie und Ethik der Anatomiearbeit verlangt also eine wesentlich umfangreichere Perspektive als im Präparierkurs vermittelt wird. Die meisten dieser Aspekte werden zum Privatproblem der Studenten und Angehörigen erklärt und aus dem Lernprozess ausgeklammert. Die Frage ist nun, wie die verschiedenen Dimensionen und Fragmente der Anatomiearbeit zusammen finden und wie das Objektive mit dem Subjektiven und mit Werteordnung zusammenkommt und eine ganzheitliche Perspektive möglich ist.
1. Was passiert, wenn ein Spender stirbt und zur „Leiche“ wird?
1.1 Was bedeutet das aus der Perspektive des Spenders?
– Es geht beim Spender um die Zerlegung seines Leichnams. Hat er (und seine Angehörigen) sich das so
vorgestellt, dass es dabei so „materiell“ und in so detaillierter Konsequenz zugeht? Aber der Spender hat der
Wissenschaft die Erlaubnis gegeben, auch wenn die „Behandlung“ sicher über seine Vorstellungskraft
hinausgeht.
1.2 Was passiert mit den Angehörigen?
– Ihre Trauer hängt eine Zeitlang in der Luft – ihre Beziehungsgeschichte ist abgerissen.
– Es findet ein extremer und ungewöhnlicher Eingriff in die Integrität eines Familienmitgliedes statt.
– Sie müssen die Entscheidung des Spenders mittragen.
– Sie müssen auf eine öffentliche Würdigung ihres Verstorbenen verzichten.
– Sie wissen ihn in einer Art „Schneewittchenzustand“ und können ihre Trauer nicht gestalten.
– Sie brauchen einen „ganzen“ Verstorbenen für die Beerdigung.
– Sie müssen bei der Beisetzung nach ein bis zwei Jahren ihre Trauer erneut aktivieren.
– Sie müssen die Zeit dazwischen „gut“ überbrücken und den „Faden“ vom Leben durch die Anatomiezeit in die weitere Trauerzeit hin durchziehen können.
– Normalerweise können Menschen erst nach der Beisetzung richtig trauern. Die Anatomie-Zeit unterbricht
diesen Prozess gravierend.
Diese außergewöhnliche Herausforderung braucht Übergangshilfen, um in die normale Trauer zu kommen.
1.3 Was passiert mit den Studierenden?
– Studenten müssen einen menschlichen Körper zerstören.
– Sie begegnen unter (Lern-) Stressbedingungen einer extremen Form menschlicher Existenz.
– Sie müssen aufspalten zwischen objektivem Lernen und emotionaler, mentaler und moralischer Betroffenheit (und das Subjektive abspalten).
– Sie begegnen oft zum ersten Mal „dem Tod“ in ihrem Leben.
– Es geht bei ihnen aber nicht um Trauer über den Tod eines Menschen, sondern um die Erinnerung an die
Endlichkeit und Tod des eigenen Lebens.
Alle diese Herausforderungen sind aber nicht mit rationalen Argumenten und dem Appell zu Achtung der postmortalen Würde und der Erinnerung an die Erlaubnis des Spenders zu bewältigen.
2 Wenn obige Aspekte ausgeklammert werden, ist die Gefahr, dass mit der Präparation von Leichen auch spätere Einstellungen als Arzt mit-präpariert werden und schon im Präparierkurs festgelegt werden. (Vermeidungsverhalten Gefühlen und Begegnung gegenüber, Vermeiden von Schwerkranken und Sterbenden).
In einer Gastvorlesung durch die Klinikseelsorge, durch Begleitgruppen, Gesprächsangebote und Gespräche am Seziertisch werden Themen angesprochen wie
– Gefühle und Empfindungen (Ekel, Belastungen, Neugier, Angst)
– Reaktionen (Träume, Witze, Spitznamen für die Leiche, Abwehrverhalten, Schneidehemmung)
– die mentale Verarbeitung (persönliche Tabus beim Präparieren, Vorstellung von dem, was im Tod geschieht, eigene Gedanken über den Tod,) und was das alles mit dem Arzt werden zu tun hat.
Dazu kommen Verarbeitungsmöglichkeiten:
– Bewußtwerden des eigenen Lernstils (Fühler, Denker, Tuer, Vermeider)
– Psychohygiene und Selbstbegleitung (eigene Rituale, Fragebogen)
– religiöse und kulturelle Vorstellungen und Sinngebungen.
Diese Themen werden später in Palliativ-Vorlesung und -Seminar weitergeführt.
3. Wie wird die Integration geleistet, wie die Leiche wieder in einen Verstorbenen verwandelt?
3.1 Am Ende des Kurses findet ein interreligiöser Abschiedsgottesdienst statt. In Mainz ist das kein Gedenkgottesdienst mit den Angehörigen zusammen. Beide Gruppen haben ihre je verschiedene Verarbeitung des Todes. Die Studenten haben ihre eigene Belastung in einer eigenen Rolle. Bei diesem Gottesdienst „Verabschiedung unserer Leichen“ machen die Studenten ein Ritual: jeder formuliert schriftlich einen Gedanken an „seine“ Leiche, der anonym vorgelesen wird. Für jeden Seziertisch wird eine Kerze angezündet
3.2 Die Studenten sind bei der Beerdigung nicht dabei. Die Trauerfeier mit den Angehörigen geht auf ihre besondere Situation in dieser Zeit ein. Die Seelsorge vermittelt zwischen Studenten und Angehörigen: sie gibt Zeugnis von den Einstellungen der Studenten bei der Präparierarbeit. Sie hilft die „Schneewittchenzeit“ zu überbrücken. – Die Studenten wissen, dass die Seelsorge ihre Äußerungen aus dem Gottesdienst an die Angehörigen weitergibt.
Beides sind Riten der Einweihung:
– die Angehörigen werden zu Trauernden
– die Studenten von Naturwissenschaftlern zu potenziellen Ärzten, die in ganzheitlicher Perspektive denken und arbeiten lernen.