„Spiritualität ist jede Erfahrung, bei der sich ein Mensch mit dem Geheimnis des Lebens in Verbindung weiß.“ (Franz Andriessen)
Wer beruflich Menschen in existenziellen Situationen begegnet, macht oft die Erfahrung, was ich da eben bei diesem Patienten, diesem Angehörigen erlebt habe, das lässt sich nicht in Worten beschreiben, und doch berührt es mich tief – und ich kann es dem Patienten ansehen, dass auch er berührt ist von dem, was sich über meine funktionelle Tätigkeit hinaus ereignet hat: Ich begegne als Professioneller immer wieder der einzigartigen Innenwelt eines Menschen. Solche Erfahrungen können die behandelnden Berufe in besonders ergreifender Form machen, wenn tiefe Lebensthemen berührt werden. Aber viel öfter geschehen sie in nicht sehr spektakulärer Form und sind doch auf eigenartige Weise „gut“, auch wenn sie sich in existenziell schwierigen Lebenssituationen zeigen. Aus solchen Erfahrungen dürfen die Helfenden auf ein „Mehr“ in jedem Menschen schließen, auch wenn dieses Mehr nicht weiter in Worte zu fassen und erst recht nicht verfügbar ist. Jeder Mensch, auch der professionelle Begleiter, trägt ein Unverfügbares und Unausschöpfbares in sich, das ihn zutiefst ausmacht. Man kann es das „Geheimnis des Lebens“ nennen. „Geheimnis“ in diesem existenziellen Sinn heißt nicht: das darf keiner wissen, das ist bewusst verschlüsselt wie eine Geheimlehre oder ein privates oder militärisches Geheimnis. Es ist vielmehr ein Symbolwort für die unverfügbare Seite des Lebens, die zugleich so wertvoll und reizvoll ist, dass es sich damit zu leben lohnt.
In diesem Sinn gilt es,
- Jedem Menschen sein Geheimnis zu glauben, d. h. sein tiefstes Selbst, auch wenn er im Koma oder verwirrt und sogar, wenn er gerade verstorben ist
- Auch dem Lebens- und sogar Sterbeschicksal eines Menschen sein „Geheimnis“ zuzusprechen
- Auch das Dasein in der Welt als Geheimnis zu sehen: Jedes Leben hat nicht nur seine Begrenzung und Endlichkeit, sondern auch die positive Verheißung, dass es sinnvoll ist, in dieses Leben hineinzugehen und sich ihm anzuvertrauen, auch wenn man nicht weiß, was alles darin passieren wird.
So wenden sich ja auch therapeutische Fachkräfte Schwerkranken und Sterbenden zu und geben auch dieser Zeit und dieser Arbeit Sinn, auch wenn sie das Schicksal eines Menschen nicht aufhalten können. Alle patientenbegegnenden Berufe berühren das Geheimnis des Lebens eines Menschen, seines Schicksals und des Daseins in der Welt überhaupt. Und sie werden von diesem Geheimnis berührt. Religiös gesprochen verdankt sich das Geheimnis des Lebens dem letzten Geheimnis, Gott, von dem alles Dasein seinen Sinn und seine innerste Qualität bekommt und in dessen Horizont wir leben.
Letztlich ist “Geheimnis“ ein Symbolwort, das mit „Spiritualität“ verwandt ist, das für das „Heilige“ eines Menschen und des Daseins steht. In diesem Sinn gibt jeder Beruf die Möglichkeit, nicht nur funktionell am Menschen zu handeln, sondern seiner Tätigkeit eine spirituelle Bedeutung zu geben: Therapeutische Arbeit wird zur spirituellen Praxis, wenn sie sich bei aller sachlichen und fachlichen Arbeit als Begegnung mit dem „Geheimnis des Lebens“ versteht.
In diesem Sinn haben diese Seminare die Absicht, die Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens zu erschließen, die manchmal spektakulär, aber im beruflichen Alltag viel öfter unspektakulär ist, und die auch am Ort von Leid und Trauer spirituelle Erfahrung ermöglichen kann.