Versöhnung – im Kontext von Sterben und Trauer
Das Thema Versöhnung ist lange Zeit von der Psychologie ignoriert worden. Es galt als Thema der Religion und der Theologie. Da wurde es moralisch eingefordert – und es konnte auch spirituell möglich sein. Wer an Gottes Barmherzigkeit glaubt, konnte angeblich immer verzeihen. Aber so einfach ist es nicht. Seit einigen Jahrzehnten ist die Versöhnung wieder im Blick sogar der Psychologie, weil es ein Grundthema des Menschseins und des Zusammenlebens ist. In der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ bemerkt der Chefredakteur: „Das Verzeihen-können ist die vielleicht größte Leistung der sozialen Evolution der Menschheit“. Wir hätten uns vielleicht sonst zerfleischt, könnte man daraus folgern.
Gleich hier zu Beginn dieses Themas eine Unterscheidung:
- Versöhnung ist die anspruchsvollere Leistung:
Versöhnung braucht die Wiederherstellung von verletztem oder verlorenem Vertrauen zwischen 2 Menschen. Zum Versöhnen gehören also 2 – einer, der anbietet und einer der annimmt.
- Das Verzeihen kann einseitig sein – es kann auch einem Menschen gelten, der bereits verstorben ist.
Diese Unterscheidung ist wichtig, damit wir nicht zu viel verlangen, wenn wir Kranke und Sterbende und Trauernde begleiten, und außer dem Verzeihen auch noch die Versöhnung zum Ideal machen.
- Und die 3. Kategorie ist das Sich-selbst-Vergeben.
Das kann mit dem Einem-Anderen-Verzeihen zusammenhängen – weil eine Schuld selten eine einseitige Angelegenheit ist.
Um es auch gleich wieder am Anfang zu sagen: Verzeihen ist in aller Regel ein nicht einfacher Prozess, der mit einem Willensakt abgetan werden könnte. Wenn es in einem Atemzug heißt: Schuld und Versöhnung – dann klingt das so automatisch und ist mit so idealistischen – auch religiös- idealistischen – Vorstellungen verbunden: „jetzt versöhnt euch wieder“.
Auch das Sich-selbst-Verzeihen ist nicht einfach. Wir haben ja gesehen, dass Schuldgefühle in der Trauer auch gebraucht werden, um die Beziehung und die Liebe wachzuhalten. Selbstvorwürfe in der Trauer stehen oft für die Ohnmacht in der Trauer. Bei Schuldvorwürfen glaubt man: man kann gegen die Ohnmacht etwas aufbieten, da kann man wenigstens sich etwas Konkretes vorstellen: „Hätte ich nur das so und nicht anders gemacht“ oder: „in Zukunft passiert mir sowas nicht mehr“. Trauer aber kann einfach Schmerz sein, gegen den man nichts aufbieten kann. Wenn man Trauernde mit Schuldvorwürfen fragt: „Was fühlen Sie da?“ Dann fangen sie oft zu weinen an, weil es der Verlust ist, der so schmerzlich ist. – Daher braucht das Sich-Selbst-Verzeihen Zeit – weil Schuldgefühle ja ein Teil der Trauer sind.
Eine grundlegende These zum Thema Vergebung:
Das Schuldthema ist in aller Regel mit einer Verletzung des Selbstwertgefühls verbunden. Und zwar beim Geschädigten wie beim Täter. Deshalb ist es so schwer, eine Versöhnung einzufordern. Denn dann müssten beide, Geschädigter wie Täter auf dasselbe Niveau kommen.
Also der Täter: ja, ich habe dich verletzt und ich sehe, was das in dir so verletzt hat.
Und für den Verletzten heißt das: sich eingestehen, warum und wo man so verletzt ist.
Auch das ist nicht einfach, sich als verletzlich und empfindlich zu sehen. Da ist es einfacher, zu sagen: du hast das und das getan – statt zu sagen, wo man verletzt ist. Versöhnung würde also heißen: sich einig werden über das, was es zu verzeihen gilt. Versöhnung kann nicht einfach verlangt oder gar erzwungen werden.
Der Täter muss sich dabei ja klein machen.
Als Täter hatte er die Macht; jetzt gälte es, von dieser Macht zurück zu treten und eine Minderung seines Selbstwertes hinzunehmen. Daher ist es so wichtig, auch dem Schuldigen seinen Selbstwert zu lassen und ihn nicht zusätzlich zu demütigen. Das setzt voraus, dass man einander zuhört und sich gegenseitig nicht weiter erniedrigt. – Solche Prozesse sind anspruchsvoll und brauchen in der Regel einen neutralen Dritten, der nicht selbst auch noch verletzt ist.
Der in Frage stehende Selbstwert ist auch bei dem Sich-Selbst-Verzeihen ein Thema. Gerade in der Trauer bei Krankheit und nach dem Tod.
Gerade nach dem Tod heißen die Selbstvorwürfe: „Ich habe nicht genügend Liebe oder Fürsorge aufgebracht“ – Also: meine Liebe hat nicht ausgereicht, z.B. um meinen Mann vom Alkohol oder von der Arbeitssucht abzuhalten. In der Begleitung heißt das nicht: „Aber Sie haben doch…“, sondern: „wie haben Sie geliebt / Ihre Liebe ausgedrückt? Was haben Sie getan, wozu waren / sind Sie imstande?“
Oder bei eigenem Versagen heißt das in der Begleitung nicht: „Dafür konntest Du doch nichts.“ – Sondern: „was kannst Du noch – welche wertvollen Teile hast du noch – neben dem Versagen?“
Und erst, wenn der Selbstwert aufgerufen ist und man sich seines Wertes bewusst werden kann, kann ein Mensch das Versagen und die Verletzung des Selbstbildes ertragen und sich vergeben. – Das Sich-selbst-Vergeben ist oft schwerer als einem anderen vergeben. Das hat mit dem Selbstbild zu tun, das vielleicht zu groß ist, weil man perfekt sein möchte oder selbstlos helfen oder immer da sein für Andere.
Also mit Scham hat das zu tun – und die sitzt tiefer als ein mögliches Versagen. – Beim Verletzt-sein und beim Verletzt-haben geht es zutiefst darum, das Gleichgewicht in der eigenen Seele wiederzufinden.
Ein Vater beichtet sein Versagen, weil sein Sohn Suizid begangen hat: „Irgendwie muss ich versagt haben, sonst wäre das nicht passiert.“ Ich war anscheinend kein guter Vater. – Dann geht es in der Begleitung darum: Wie warst du Vater – und wie wolltest du guter Vater sein? Auch das zählt: Wie wolltest du sein? Es ist dir nur nicht hinreichend gut gelungen. Vor Gott zählt das auf jeden Fall:
Nicht: Entweder warst du gut oder ein Versager – sondern: wie warst du es – wie bist du es? (Großvater – 2 Enkel, einer läuft in Auto – tot. „Wie warst du in diesem Moment Opa?“ – Er hat das Kind liebevoll in seinen Armen nach Hause getragen.)
Beispiel: Als ich gerade mal weg war (z. B.1 Stunde zu Hause, da ist er / sie gestorben). – Was sagen wir da? „Woran haben Sie auf dem Weg/zu Hause gedacht…?“ – Die Liebe wurde auf diese Weise realisiert. –
Also: Verzeihen ist nicht selbstverständlich – auch für Christen nicht. – Verzeihen braucht als Basis das Empfinden vom eigenen Selbstwert. Und das braucht Begleitung – nicht das Weg-reden des Versagens oder einer Schuld. Und diese Beziehung zu sich selbst finden und vertiefen, ist in der Regel ein langer Weg.
Vorschnelle Forderungen, zu vergeben nimmt die Person und ihre Selbstwertproblematik nicht ernst. – Und: Vergebung ist nicht immer die beste Antwort auf Verletzungen. Wer einem alkoholabhängigen Partner immer wieder verzeiht, verlängert das Problem nur. „Pseudoverzeihen“ (V. Kast) wäre das. Vergebung ist ein Reifungsvorgang, kein Mechanismus.
Auch religiös gesprochen gilt: Die Vergebung von einer höheren Macht her kann eine höchst hilfreiche Erfahrung sein, dass der eigene Selbstwert noch gilt – vor Gott noch gilt. Aber das ersetzt nicht den Prozess einer Versöhnung oder des sich-selbst-Vergebens.
Und als Letztes: Nicht wir sind die Richter über Gut und Böse, über Würde und Nichtsnutzigkeit, über die Schwere einer Schuld in der Geschichte eines Menschen. Gottseidank dürfen wir das Gott, dem ewigen Richter überlassen.