A plea for a concept of spirituality for (professional) every day use
Zusammenfassung
Ein Blick auf die deutschsprachige Diskussion um Spiritual Care zeigt:
Die Konzepte sind noch rar, die Grundlagen und Methoden spiritueller Kommunikation im Berufsalltag darstellen und entfalten.
Dabei betonen so gut wie alle Stellungnahmen der Gesundheitsfachberufe die Wichtigkeit der Spiritualität in ihrer Arbeit. – Der folgende Artikel lenkt den Blick von der Metaebene der Diskussion um Spiritualität auf die Mikroebene der konkreten Situationen, die die Angehörigen der versorgenden Berufe in Krankenhaus, Altenheim und Palliative Care antreffen. In diesem Beitrag wird ein Begriff von Spiritualität vorgestellt, der nicht nur der Hochform dieser Dimension, sondern auch der im Berufsalltag viel öfter indirekt begegnenden Form Rechnung trägt. Zudem findet man in der Literatur die konkrete Ausgestaltung von Spiritual Care oft nur umrisshaft und rudimentär dargestellt. Es braucht daher sowohl Verstehens- wie Anwendungskonzepte, die für die alltägliche Begegnungspraxis der Gesundheitsfachberufe hilfreich sind. Insofern versteht sich der hier vorgelegte Begriff von Spiritualität und der damit verbundene Ansatz der „symbolischen Kommunikation“ als Beitrag zum aktuellen Spiritual-Care-Diskurs.
Schlüsselworte: Spiritualität, Spiritual Care, „innerer Geist“, symbolic listening, Ressourcen
Abstract
Considering the discussions going on in German as to spiritual care, we can see that concepts as to basic models and formats which would allow spiritually based communications for professionals, are still rare.
At the same time, almost all statements about the tasks of the health care professions emphasize the importance of spirituality in their work.
The following contribution seeks to move forward from the discussions taking place on meta-levels, to the micro-level of concrete situations as caring professionals encounter these in hospitals, nursing homes and palliative care. I present a concept of spirituality that takes into account not only the current scientifically oriented dimensions, but also the formats are more frequently encountered on an indirect basis, namely in everyday professional life. Spiritual care to be applied in concrete forms, is in the literature still often outlined and presented in too rudimentary ways. Therefore, there is a need for models and methods that health care professionals can apply in their daily practice. Thus, the conceptualisation of spirituality as presented here, with its associated approach of „symbolic communication“ contributes to the ongoing spiritual care discourse.
Einleitung
Wozu eine weitere Definition von Spiritualität? Es gibt längst eine Fülle von Umschreibungen für „Spiritualität“. Wie immer wieder betont wird, muss dies kein Nachteil für dieses Phänomen sein. Die große Spielbreite des Begriffs entspricht der Unterschiedlichkeit und Vielfarbigkeit des subjektiven Erlebens von Menschen, die den Helfenden im Gesundheitswesen begegnen. Zugleich bildet die Weite des Begriffs die Diskussionsbreite innerhalb der gesundheitsbezogenen Forschung und Literatur ab.
Auf der anderen Seite ist eine Verständigung über einen Begriff angezeigt und notwendig, weil davon abhängt, wie Spiritual Care nicht nur verstanden, sondern auch praktiziert und letztlich geschult werden kann. Spiritual Care ist ein sich „rasch entwickelndes Forschungs-, Praxis- und Ausbildungsgebiet“ (Peng-Keller 2020: 127). Es geht dabei um die Frage, wie Spiritualität im Gesundheitswesen als Teil der Versorgung von Kranken, Sterbenden und Trauernden einsetzbar ist und eingesetzt wird. Dies zu diskutieren ist auch deswegen wichtig, weil der Charakter des Spirituellen einer anderen Logik entstammt als die naturwissenschaftlich-instrumentelle Logik der Medizin und der von ihr abgeleiteten Versorgungspraxis hergibt. So ergeben Studien, dass ein beachtlicher Teil von befragten Ärzt/-innen eine spirituelle Orientierung haben (Büssing et al. 2013), die allerdings letztlich – wohl aus Gründen der naturwissenschaftlichen Ausrichtung ihres Berufs – privat bleibt. Einer Befragung des Royal College of Nursing (2011) zufolge ist die übergroße Mehrzahl der Pflegenden der Überzeugung, dass Spiritualität und Spiritual Care einen wichtigen Aspekt der Pflege darstellen. Aber 92 % gaben an, dass sie nur gelegentlich in der Lage seien, auf die spirituellen Bedürfnisse von Patient/-innen einzugehen. (Vgl. auch Zegelin 2005)
Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch, allen Phänomenen spiritueller Erfahrungen und Fragen gerecht zu werden. Sie hat auch nicht die Absicht, eine Definition zu bieten, die alle anderen ersetzen soll. Es geht vielmehr darum, für einen Schlüsselbegriff und damit für ein Arbeitsinstrument zu plädieren, das allen Beteiligten in der Patientenversorgung zugänglich und zugleich anwendungstauglich ist. Zudem soll es zu Methoden und Fertigkeiten führen, die in der Fortbildung aller Gesundheitsfachberufe jeweils spezifisch für diese gelehrt und trainiert werden können. Es geht daher im Folgenden darum, ein Verstehensmodell für die spirituelle Dimension, das zugleich als Grundlage für eine Anwendungsmethodik für die berufliche Begleitpraxis dienen kann, in den Diskurs um Spiritual Care einzubringen.
Diskussionsebenen, die es zu beachten gilt
Wenn hier Konzepte von Spiritual Care diskutiert werden sollen, dann ist zunächst grundsätzlich zu klären, auf welcher Ebene dies geschehen soll: ob auf der Meta- oder der Makro- und Mikroebene.
Zur Diskussion auf der Metaebene gehören z. B. folgende Themen:
- Wie ist Spiritualität als Dimension des Menschlichen wissenschaftlich einzuordnen? (vgl. Baier 2006b, Feinendegen & Schäffer 2014: 168, das Heft Spiritual Care 2020 (1)). Zugleich zeigt die Forschung, welchen Stellenwert in der gesamten Gesellschaft Spiritualität und Religion haben (z.B. Zulehner 2004, Bucher 2007, Polak 2016).
- Auf diese Ebene gehört aber auch die Frage, welcher Begriff von Spiritualität bei diesen Untersuchungen vorausgesetzt wird (diskutiert z.B. bei Kohls-Wallach 2011: 36, Büssing 2017). Eine Begriffsbestimmung muss aber auch den Forschungen zu Bedeutung und Wirkung dieser Dimension bei Krankheit und Krisenbewältigung vorausgehen (Klein et al. 2011, Koenig 2012). Diese sind auch Grundlage für die Folgerungen, die daraus für Spiritual-Care-Konzepte und letztlich für die Gesamtversorgung im Gesundheitswesen zu ziehen sind.
- Welches eher inhaltliche Verständnis von Spiritualität wird jeweils vorausgesetzt? Schließt das Spirituelle religiöse Fundierung und Praxis ein, oder ist es gerade als unreligiöse Alternative zu Religion gedacht? So gut wie jede Abhandlung über Spiritualität betont, dass es Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede zwischen Spiritualität und Religion gibt. Ist die mit Spiritualität verbundene Transzendenzvorstellung vor allem überweltlich (vertikal) (Koenig et al. 2012, Heller B 2014, Schaupp 2017) oder auch in horizontaler Welterfahrung (Schnell 2011, Pargament 2013) gedacht? Bezieht sich Spiritualität vorwiegend auf „letzte Fragen“ und Sinn-Themen, auf Peak-Erlebnisse und Erfahrungen des Numinosen, oder ist Spiritualität auch – und vor allem ganz elementar – in der Lebensvorstellung und -praxis eines jeden Menschen und nicht erst an den „Grenzen des Lebens“ (was z.B. Staudacher (2017) nahelegt) anzutreffen?
- Ebenfalls auf die Metaebene gehören Diskussionen um Absicht und Zweck von Spiritual Care im Gesundheitswesen. Da gibt es eine Reihe von Mutmaßungen und Unterstellungen der Spiritual Care gegenüber z. B. dass dies vor allem der Ruhigstellung von Patient/-innen (so z.B. Gronemeyer 2007: 270), oder als Wellnessprogramm in der medizinischen Versorgung dienen soll und dies vor allem, weil das dann den Krankenhausverwaltungen und Kostenträgern ins Konzept passen würde (so z.B. Heller & Heller: 2014: 39 ff). Demgegenüber steht die Einstellung, dass Spiritual Care ganz einfach zur Humanität im Gesundheitswesen und neben der physischen und sozialen zur Unterstützung betroffener Menschen überhaupt gehört.
- Nicht zuletzt der Metaebene zugehörig ist die Frage, ob eine Reflexion auf „Spiritualität“ vorwiegend den spirituellen Haltungen („Achtsamkeit“) und Sorgemotiven der Helfenden gilt, oder – natürlich nicht unter Absehung von deren geistlicher Einstellung (z.B. Cassidy 1995, Müller 2004) – in erster Linie den spirituellen Orientierungen der Patient/-innen, mit denen diese ihr Schicksal zu bewältigen suchen. Spiritual Care im Gesundheitswesen hat primär die „Kommunikationsbemühung mit einem Anderen“ zum Ziel – nämlich mit dem Patienten, der Patientin (Roser 2013: 63).
Schon diese angedeuteten Problemstellungen zeigen, wie notwendig es ist, zu unterscheiden, auf welcher Ebene der Diskussion man sich gerade bewegt – ob auf der Metaebene wissenschaftlicher Beurteilungen und grundsätzlicher Bewertungen oder auf der Mikroebene der Perspektive der Begegnung und Kommunikation am Kranken- und Sterbebett.
Bei der Mikroebene geht es um die Frage, wen die Gesundheitsfachpersonen als ihr Klientel konkret antreffen, wozu betroffene Menschen die Begleiter/-innen dann brauchen und was deren Rolle in der Begleitung jeweils angemessen ist. – Die Makroebene betrifft die Organisation und innerbetriebliche Kommunikation bzgl. Spiritualität und Spiritual Care in einer Einrichtung.
In der zeitgenössischen Diskussion werden diese Ebenen oft nicht deklariert und entsprechend auseinandergehalten. Das führt dazu, dass prinzipielle Wertungen, Definitionen und Urteile der Metabetrachtung die Perspektive der Makro- und Mikroebene bestimmen.
Zugleich müssen die verschiedenen Ebenen auch in ihren notwendigen Beziehungen zueinander gesehen werden:
- So hat die Spiritualitätsforschung der letzten Jahrzehnte dazu geführt, im Gesundheitswesen das Phänomen selbst und seine heilsame Funktion bei Krankheit, Sterben und Trauer mehr zu beachten und wertzuschätzen. Dies hat dann auch gesundheitspolitisch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.
- Zugleich hat dies Auswirkungen auf der Makroebene: dass und wie Verantwortliche im Gesundheitswesen und konkret Krankenhausleitungen auch die spirituelle Dimension in ihre Konzepte einbeziehen.
- Die Forschungsdiskussion ist besonders relevant den naturwissenschaftlich und auf Operationalisierung ausgerichteten medizinischen Fachdisziplinen gegenüber. So ist die nicht unkritische, aber im wesentlichen positive Sicht auf Spiritualität dabei, im Gefolge von Palliativ Care auch in andere Bereiche der Versorgung von kranken und alten Menschen vorzudringen.
- Auf gesellschaftlicher Ebene ist zu beobachten, dass der Diskurs zu einer neuen Aufklärung und zur Überprüfung von Vorurteilen der religiösen und spirituellen Dimension gegenüber geführt hat.
- Parallel dazu hat dies eine Offenheit und positive Aufmerksamkeit für Spiritualität und das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Spiritual Care bei den Gesundheitsfachkräften befördert. Mittlerweile hat das Interesse am Erwerb von Kompetenzen in spiritueller Begleitung – also auf der Mikroebene – deutlich zugenommen.
- Kritisch zu sehen ist allerdings, dass durch die Bemühungen um Messbarkeit spiritueller Einstellungen das Objektivierbare zur dominierenden Kategorie für die Sicht auf die Mikroebene zu werden droht.
Diese Beziehungen im Blick zu behalten und dabei den Fokus auf die Mikroebene der konkreten Begleitung zu lenken, dient die folgende Argumentation.
Spiritualität in ihrer Bedeutungsbreite sehen
In diesem Beitrag wird dafür plädiert, das Phänomen „Spiritualität“ als ein ganzes Spektrum mit den beiden Polen „alltagsagnostisch/alltagspragmatisch“ und „hochreligiös“ zu sehen (Weiher 2017b). Den Bereich zwischen den beiden Enden könnte man mit „Glaube, dass es etwas Höheres gibt“ umschreiben. Wenn in Erfahrungsberichten konkrete Beispiele von Spiritual Care beschrieben werden, dann sind dies bezeichnenderweise oft solche mit identifizierbarer Religiosität. Selbstverständlich gehört auch eine dezidiert religiöse Ausrichtung auf eine überweltliche Transzendenz in das Bedeutungsspektrum der hier vertretenen Spiritualitätsauffassung. Aber die spirituelle Dimension begegnet den Gesundheitsfachkräften bei weitem nicht nur in erkennbar religiösen Bekundungen und Praktiken von Patient/-innen. Sie muss auch Menschen zugesprochen werden, die sagen, sie könnten ganz ohne solche Vorstellungen und mystische Erfahrungen leben. Zu Recht bemerkt Karl Baier, dass in vielen Bestimmungen von Spiritualität, die von feststehenden Letztorientierungen ausgehen, spirituelle Krisen und Suchbewegungen keinen gebührenden Platz finden (2006: 38f). Dazu ist zu ergänzen: Wo bleiben die vielen Übergangsphänomene, wenn Menschen ein „irgendwie Höheres“ für sich gelten lassen, ohne es genauer konturieren zu wollen? Oder wo bleiben Phänomene der „mittleren Transzendenz“ (Weiher 2014: 105ff), die man Menschen als „Selbsttranszendenz“ (Joas 2004: 17) nicht absprechen kann? Für viele Zeitgenossen wäre dann ein spirituelles Begleitangebot sinnlos und sogar übergriffig (so die Kritik von Heller & Heller 2009). Um jedoch allen Menschen im Spektrum ihrer Lebensdeutungen gerecht zu werden, wird hier die These vertreten: Jeder Mensch hat eine innere Einstellung, mit der er durch´s Leben geht und (seine) Existenz auslegt (vgl. z.B. Baier 2006a: 14, Puchalski 2006: 11). Wenn man von dieser These ausgeht, dann stellt sich grundsätzlich die Frage, wieweit Spiritual-Care-Konzepte dem ganzen Spektrum des Spirituellen und nicht nur den ins Übersinnliche reichenden Phänomenen Rechnung tragen.
Um die vielfältigen und ganz persönlichen Weisen, wie Menschen sich und ihrer Existenz Bedeutung geben, zu würdigen, soll Spiritualität daher wie folgt umschrieben werden:
Spiritualität ist der „innere Geist“ in einem Menschen, aus dem heraus er Dasein und Welt versteht, er sein Leben gestaltet und der seinen Umgang mit Leben, Schicksal, Sterben und Tod bestimmt (zuerst veröffentlicht in Weiher & Weber 2002, Weiher 2006; ähnliche Formulierungen verwendet die Definition der Sektion Seelsorge der DGP 2007 und z.B. Feinendegen & Schaeffer 2014: 169).
„Geist“ als Grundprinzip von Spiritualität
Das Wort „Geist“ ist hier – formal gesehen – als Symbolbegriff zu verstehen. Deshalb ist es bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Es meint nicht einfach nur die Ausstattung des Menschen mit Verstand und Intellekt oder „Psyche“, sondern die anthropologisch grundgelegte Fähigkeit eines jeden Menschen, in seinem Inneren Einstellungen und Vorstellungen auszubilden, die die Qualität seiner Beziehung zur Wirklichkeit ausdrücken (vgl. Hartmann 1993). In der Perspektive der hier verfolgten Argumentation ist es wichtig zu betonen: Diese „Einstellungen“ sind bei weitem nicht nur als bewusst vertretene und konturierte Überzeugungen zu verstehen. – Existenzielle Betroffenheit und geistige Einstellungen sind auch nicht auf die Kategorie „Gefühle“ zu reduzieren und rein psychologisch zu deuten. „Gefühle verweisen immer auf Bedürfnisse. Bedürfnisse aber reichen weiter und tiefer als das Gefühl selbst.“ (Gramm 2020). Spiritualität übersteigt die physische, psychologische und soziale Wirklichkeit (Walton & Sullivan 2004: 137).
Die These vom „inneren Geist“ heißt nicht, dass es sich um eine abstrakte, wirklichkeitsferne Wesenheit handelt, die gänzlich unbestimmbar und leer wäre. Wohl ist diese innerste Dimension nicht objektivierbar und direkt darstellbar. Spiritualität ist im Grund genommen keine isolierbare Entität. „Geist“ im symbolischen Sinn bedeutet nicht einen bestimmten Bereich im Menschen, keine eigene Region im Gehirn, sondern eine den ganzen Menschen durchdringende und erfüllende Dimension. In der Regel ist das Spirituelle – formal gesehen – verwoben mit den anderen Dimensionen des Menschseins, der körperlichen, der psychischen, der rationalen und sozialen. Sie ist als der innere Sammel- und Ausstrahlungspunkt all dieser Dimensionen zu verstehen, in die dieser Geist hineinwirkt und ihnen erst ihre Bedeutungsqualität gibt. Diese Sicht entspricht auch theologisch-pneumatologischen Einsichten. So betont Karl Rahner (1978: 247), dass die Geisterfahrungen „in den meisten Fällen des menschlichen Lebens nicht in ausdrücklichen Meditationen, in Versunkenheitserlebnissen usw. sondern am Material des normalen Lebens […] getan werden, wobei es sogar im Allerletzten eine zweitrangige Frage bleibt, ob solches Tun von einer religiösen Interpretation ausdrücklicher Art begleitet ist [ … ]“.
Der Symbolcharakter gestattet es, „Geist“ als elementare anthropologische Dimension aufzufassen, auf die jeder Mensch ansprechbar ist. Es kann hier nicht vertieft diskutiert werden, aus welchen religiösen Traditionen sich Spiritualitätsbestimmungen speisen. Der Geistbegriff oszilliert zwischen anthropologisch-philosophischen und theologischen Konnotationen (Peng-Keller 2019: 88). Die Forschungen zur Spiritualitätsgeschichte (z. B. Baier 2006a, Peng-Keller 2014 und 2019) zeigen auf jeden Fall, dass dem Phänomen und seiner Fülle und Tiefe religiöse Quellen vorausgehen. Auch ein vorwiegend anthropologisches Verständnis kann sich auf religiöses Gedankengut beziehen und daraus schöpfen, ohne dass es dadurch abgewertet oder ersetzt wird. Wohl aber kann es durch die religiöse Interpretation eine Fundierung bekommen und durch einen transzendenten Horizont um eine entscheidende Dimension erweitert werden.
Nach christlichem Verständnis verdankt sich die Geistdimension des Menschen der Schöpfung Gottes. Die spirituelle Ansprechbarkeit des Menschen wird biblisch gedeutet als Ausdruck eines göttlich-kreatorischen und kreativen Wirkens des Geistes, aus der die Grundstruktur der Wirklichkeit hervorgegangen ist. Die christliche Theologie ist in ihrer Geschichte zwar oft der Versuchung eines Leib-Seele-Dualismus erlegen. Aber im Grund hat sie die Geist-Dimension immer als innerstes Prinzip der Welt und damit auch der Alltagsdinge des Lebens verstanden (vgl. z.B. Rahner 1978). Sie ist im göttlichen Between zwischen allen und allem. So ist sie konkret präsent als befreiende und sinnstiftende Gegenwart Gottes. Der heilige Geist ist Seele der Welt und als „Seele meiner Seele“ integrierende Dimension des Menschen. – So erfährt auch eine anthropologisch verstandene Spiritualität in diesem Jenseitshorizont ihre umfassendste Begründung.
Folgerungen für den Spiritualitäts-Diskurs
- Es ist durchaus entscheidend für Sichtweise und Praxis von Spiritual Care, wie Spiritualität umschrieben wird und wie sie einzusetzen ist. Es ist alles andere als eine Vereinnahmung (so z.B. Heller & Heller 2014: 68), wenn jedem Menschen ein innerer Geist zugesprochen wird und wie diese seine Innenseite respektvoll als Spiritualität interpretiert wird. Spiritual Care ist in dieser Perspektive strikt vom Patienten, der Patientin und von der menschlichen Grundausstattung und nicht von einer kategorisierenden oder gar normierenden Bestimmung her gedacht.
- Auch äußert sich Spiritualität bei weitem nicht nur in Peak- Erfahrungen, im außergewöhnlichen Berührtsein durch Musik oder „Sternstunden“ in Kunst und Natur; auch nicht nur in Praktiken wie z.B. Meditationen, Ritualen und spirituellen Übungen oder im bewussten Umgang mit spirituellen Inhalten und Weisheiten oder in Beziehung zum Göttlichen, zu Wesenheiten und Kräften, wie z. B. Bucher (2007) viele Beispiele zitiert. Wenn Spiritualität vor allem mit besonderen Erlebnissen in Verbindung gebracht wird, dann werden viele Menschen mit ihren persönlichen – wenig spektakulären – Erfahrungen übersehen. Obige Prämisse formuliert absichtlich Spiritualität sehr formal. Sie lässt auch offen, mit welchen Sinnvorstellungen ein Mensch das verbindet ob unabhängig von oder in Verbindung mit dem Glaubensgut einer Religion.
- Ebenso geht die grundsätzlich gemeinte Aussage: Spiritualität ist das, was der Patient dafür hält, oder wie er sich selbst erklärt (vgl. z.B. Roser 2007: 47; Heller & Heller 2014: 68) an der Wirklichkeit dieses Phänomens vorbei: „Spirituell als Selbstbezeichnung der Betroffenen ist relativ gering“ (Utsch & KIein 2011: 29). Vielen Menschen ist der Begriff „Spiritualität“ nicht vertraut. Und doch haben sie es verdient, auch in ihrer existenziellen und spirituellen Innenseite wahrgenommen und darin unterstützt zu werden. – Gleiches lässt sich von den vielgenannten „spirituellen Bedürfnissen“ von Kranken und Sterbenden sagen. Diese Konzeption geht davon aus, dass die Betroffenen sich dieser Bedürfnisse bewusst sind und sie wie selbstverständlich den Versorgenden gegenüber benennen können. Spiritual Care aber auf die Erfragung und Erfassung von identifizierbaren Bedürfnissen zu fokussieren, als ob erst dann spirituelle Begleitung angezeigt wäre, schränkt die Wahrnehmung dieser Dimension erheblich ein.
- Das Verständnis „innerer Geist“ ermöglicht es, Spiritualität breiter gefächert und näher an den tiefgehenden Erfahrungen der Menschen zu sehen als in der Spiritualitätsauffassung, die z. B. Anamnese-Erhebungen zugrunde gelegt wird. Musterfragen der spirituellen Anamnese (Puchalski & Romer 2000, Okon 2005, Puchalski 2006, Borasio 2009, Koenig 2012, Frick 2019) sind zweifellos hilfreich für die Versorgung von Patient/innen und Angehörigen. Natürlich können sie eine „Spur der Transzendenz“ legen (Frick 2019: 300). Sie sind zugleich eine praktizierbare Hilfe, weil sie dem medizinischen Personal Instrumente über ihre unmittelbar fachlichen Möglichkeiten hinaus an die Hand geben. Es ist aber grundsätzlich die Frage zu stellen, ob solche Erhebungsinstrumente die Vielfarbigkeit und Tiefe der spirituellen und religiösen Erfahrungen von Menschen zu erfassen imstande sind. Und ob das ganz persönlich Bedeutsame, das ihnen hilft, der Lebensbedrohung zu begegnen, damit berührt und ihnen selbst und der Begleitperson sich weiter öffnet. Was das Erleben der Betroffenen angeht, schöpfen spirituelle Anamnese und Assessment – wenn Spiritual Care darauf zugeschnitten wird – das Potenzial der spirituellen Dimension und damit das Spektrum der Begleitmöglichkeiten bei weitem nicht aus.
- Spiritual Care ist nicht erst dann angezeigt, wenn Menschen spirituelle „Probleme“ und existenzielle Nöte haben, wie eine Definition der WHO lautet (Aufruf der Website am 5. 8. 2020). Die Problemfokussierung wird von vielen Autoren (z. B. Borasio 2014: 118) kritiklos übernommen. Als ob Menschen es erst dann verdient hätten, mit ihrer Spiritualität wahrgenommen zu werden, wenn sie spirituelle Nöte äußern oder „Störungen“ diagnostiziert werden. Spiritual Care sucht vielmehr auch nicht problembezogen mit den Betroffenen nach spirituellen Einstellungen und Sinnressourcen, um sie für ihr Leben mit ihrem Schicksal und in der Krankheitsverarbeitung zu stärken.
- Ein weiteres wichtiges Moment ist mit der Geist-These verbunden. Als charakteristisch für Spiritualität wird häufig „Sinnsuche“ genannt. Dies suggeriert, dass ein Sinn vor allem durch klare Erkenntnis gefunden werden könnte und Menschen ihrer Krankheit und ihrem Schicksal selbst einen Sinn abgewinnen könnten. – Auch ist zu bezweifeln, ob man der Sinndimension im Kontext von Krankheit und Sterben gerecht wird, wenn sie als Frage nach „dem Sinn des Lebens an sich“ gesehen wird. Der Erfahrung der Klinikseelsorge nach geht es Menschen eher darum, der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens auf die Spur zu kommen: Sinn, der eingewoben ist in die ganze Lebensausrichtung und der als Vertrauens- und Bedeutungserfahrung zum Leben eines Menschen gehört. Gerade am Kranken- und Sterbebett zeigt sich, dass „Sinn“ für viele Menschen nicht nur heißt: einer Situation bewusst Bedeutung geben, sondern vor allem als Person Bedeutung haben, also bedeutsam sein vor sich selbst, vor anderen, vor dem Allerhöchsten, vor Gott. Solche Sinnerfahrung ereignet sich im Leben eines jeden Menschen, auch wenn infolge einer Krankheit Sinnmomente verloren gehen. Der „innere Geist“ und die großen und kleinen Sinnmomente, die das Leben eines Menschen ausgemacht haben, prägen ja nach wie vor seine Identität (vgl. Samarel 1991). Auch Kranke und Sterbende sind nicht nur Kranke, sondern Menschen mit lebenslangen Kohärenzerfahrungen. Sinn findet sich nicht erst in der Gegenwarts- und Zukunfts-, sondern auch in der Vergangenheitsperspektive des mitgebrachten Lebens, das ein Mensch aus seinem Geist heraus verwirklicht hat. Auch wenn ein Schwerkranker diesen Teil seiner Lebenszeit nicht als sinnvoll sehen kann und Sinnerfahrungen verschüttet sind, muss er in den Augen der Behandler/-innen prinzipiell als Träger von Sinnkonstruktion und damit (s)eines inneren Geistes gesehen werden.
Folgerungen für eine Spiritual-Care-Praxis
Aus der Geist-Prämisse folgt als Grundeinstellung, die für jede Begegnung mit Kranken – und mit Menschen überhaupt – bestimmend sein sollte: (Als Helfender) glaube ich jedem Menschen (s)einen inneren Geist, aus dem heraus er sich selbst und seinem Leben – mehr oder weniger bewusst – Bedeutung gibt und mit dem er sein Schicksal zu bewältigen sucht.
Wenn diese Voreinstellung die beruflichen Begegnungen leitet, dann werden die Gesundheitsfachpersonen ihren Patient/-innen gegenüber anders achtsam sein, sie anders sehen und sich ihnen zuwenden, anders zuhören und Beziehung gestalten, als wenn sie von einem biopsychosozialen Bild vom Menschen ausgehen. Es gilt also bei allen Menschen, denen die Helfenden beruflich begegnen, darauf zu achten und zu hören, „wes Geistes Kind“ jeweils ein Mensch ist, damit sie ihn ganzheitlich betreuen können.
Spiritual Care im Modus der Haltung
In vielen Veröffentlichungen wird als die eigentliche Verwirklichungsform von Spiritual Care die Haltung der Helfenden gesehen, mit der sie den Patient/-innen begegnen. In dieses Medium können sie ihre Spiritualität, ihre Menschenliebe und ihr Ethos hineinlegen. Der „innere Geist“, die innere Motivation und die davon inspirierte Haltung sind zwar eine grundlegende und notwendige Voraussetzung für spirituelle Begegnung und Begleitung. Bei der Geist-These geht es aber nicht nur und nicht zuerst um die Einstellung der Helfenden, als ob allein eine Praxis der Achtsamkeit und der Menschenliebe von sich aus das ganze Spektrum der Aktivierung von Spiritualität erfassen würde. Vielmehr geht es primär darum, die Spiritualität der zu Betreuenden wahrzunehmen und zu ihr in Beziehung zu gehen. Spiritual Care erschöpft sich daher nicht im Modus der Haltung und der Aufmerksamkeit, die ein Helfender in sich trägt.
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Spiritual Care als symbolische Kommunikation
Ein entscheidend weitergehender Weg ist die Möglichkeit, mit der Spiritualität der Klient/-innen, die diese in sich tragen, auch kommunikativ in Beziehung zu kommen. Dies geschieht, wenn Patient/-innen (und im Grund jeder Mensch, der uns begegnet) in ihren Lebenserzählungen und Identitätsbekundungen zu erkennen geben, aus welchem Geist heraus sie sich und ihrem Leben Bedeutung geben. Menschen öffnen nämlich den Begleiter/-innen Zugänge zu ihrer Innenseite. Und sie tun es in narrativer Form:
- „Wissen Sie, wir haben drei Söhne. Der Älteste…“
- „Dieses Jahr bin ich zum ersten Mal nicht in meinem Weinberg…“
- „Gucken Sie mal, wie ich aussehe…“
Auf diese Weise reden Menschen nicht nur über ihre Krankheit und das, was ihnen fehlt, sondern sie deuten ganz unspektakulär sich und ihr Leben in ihren kleinen und großen Erzählungen. Was sie sagen, hört sich oft nebensächlich und belanglos an. Sie tun es aber in der „geheimen“ Absicht, mit dem, was sie wesentlich ausmacht, wahrgenommen zu werden und auf wertschätzende Resonanz zu stoßen. Solche Erzählungen sind zwar meist ausschnitthaft und situativ. Dabei leuchtet aber sozusagen symbolisch (Weiher 2017b) etwas vom ganzen Potenzial an Spiritualität auf, das sich im Lauf des Lebens angesammelt und verdichtet und die Identität und den Lebensstil geprägt hat. Menschen tun dies – so die These -, um in Krankheit, Krise, Sterben, Trauer bei all den zu erleidenden Verlusten ihre Identität zu sichern. Und in diese „Identität“ ist ihr innerster Geist eingewoben und – implizit – mitgemeint. Mit dieser Sichtweise ist eine zweite These verbunden: Die spirituelle Dimension eines Menschen kommt weitaus häufiger auf implizite als auf explizite Weise zum Ausdruck (Weiher 2014: 100) und will gerade auch als implizite wahrgenommen werden.
Spiritualität wird weithin beschrieben als bewusste und ausdrückliche Haltungen, Einstellungen, Überzeugungen und Praktiken und als Umgang mit dem Transzendenten und mit letzten Fragen und Themen. So gesehen wäre Spiritualität vor allem ein benennbares und identifizierbares Konzept von (Glaubens-) Überzeugungen. „Fehlt jeder Bezug auf eine große Transzendenz […] handelt es sich nicht um Spiritualität“ (Heller 2014: 59ff). Dem ist entgegenzuhalten: den Menschen der säkularen Welt muss zugebilligt werden, dass sie das Transzendente dort glauben, wo sie ihren letzten Grund gefunden haben, sei es in einer horizontalen oder sei es in einer vertikalen Dimension. Für viele Menschen in einer säkularen Zeit ist die implizite Form die einzige Möglichkeit, sich aus ihrer Spiritualität heraus zu äußern und etwas davon zu erkennen zu geben. Denn so kommunizieren Menschen ihre „Alltagsspiritualität“, auch ohne dass sie den Begriff „Spiritualität“ verwenden oder der Begriff ihnen vertraut ist. Es ist bereits die Alltagsspiritualität der Menschen, die die Aufmerksamkeit der Helfenden braucht und nicht erst (wie man aus Peng-Keller (2016: 29) schließen könnte), die überraschend auftauchenden Wünsche und Bilder in Grenzsituationen („emergierende Spiritualität“).
Aufgabe der Begleitenden: Symbolic listening
Es gilt also, in der beruflichen Begegnungspraxis nicht erst auf spezifisch spirituelle oder religiöse Fragen und Themen zu warten. Ebenso ist auf die unspezifisch geäußerte Spiritualität zu achten, die implizit in den Selbstmitteilungen der Menschen deren innerster Bedeutungskern ist. Ich nenne diese Begegnungsweise „symbolic listening“, d.h. die Erzählungen der Menschen als symbolisch für ihre inneren Einstellungen zu hören und damit kommunikativ in Beziehung zu gehen. Die Kategorie „symbolisch“ (Weiher 2017b) gilt dabei zunächst nur für die Aufmerksamkeitsrichtung der Begleitperson: zu hören (und zu fühlen und wahrzunehmen), dass und wie der Patient, die Patientin auf ganz alltägliche Weise etwas von ihrem inneren Geist zu erkennen geben. Solche Erzählungen von Kranken oder Sterbenden sind nicht absichtlich als Symbol gemeint (wie eine Metapher, z.B. „Ich bin hier wie auf dem Abstellgleis.“). Sie machen auf diese Weise keine strukturierte Biographiearbeit oder Würdetherapie, sie schreiben keine Kurzgeschichten oder Gedichte. Vielmehr ist das ihre Alltagspoesie, mit der sie sich inszenieren, sie wahrgenommen und gewürdigt sein wollen. Dafür brauchen sie die Helfenden als Dialogpartner, um ihrer selbst mehr gewiss zu werden und aus dieser Selbstvergewisserung ihr Schicksal bestehen zu können. Menschen öffnen in ihren Lebenserzählungen etwas von ihrem „Heiligen“; sie tun es in Alltagsform, worin das Große und Größte im Kleinformat steckt. Jeder Mensch hat in diesem Sinn sein Heiliges, d.h. was für ihn etwas unüberbietbar Höchstes und Tiefstes bedeutet. Spiritualität ist also durchaus nicht nur als Erfahrung mit und Suche nach dem transzendenten Heiligen und Göttlichen (so Koenig 2012: 46) zu definieren. Für die Begegnungspraxis ist die Erfahrung des Heiligen als Spektrum mit den Polen „was mir heilig ist“ auf der einen und „der Heilige, Gott“ auf der anderen Seite zu sehen. Bereits in den alltäglichen Äußerungen stoßen die professionellen Helfer/-innen auf das, was diesem Menschen heilig ist. „Jeder Aspekt des Lebens kann eine heilige Eigenschaft annehmen.“ (Pargament 2013) „Heilig“ heißt allerdings nicht, dass das materielle Objekt selbst das spirituell Höchste ist. Vielmehr kann der Mensch durch die Beziehung zu diesem Objekt die Erfahrung des Heiligen machen, das implizit oder explizit einen transzendierenden Horizont mit sich führt. Religiöse Menschen sehen dieses persönlich als „heilig“ Erfahrene mit dem absolut Heiligen in Verbindung; für sie verdankt es sich dem Allerhöchsten, Gott.
Spiritualität als Ressource
Menschen tragen Sinn- und Identitätsressourcen aus ihrer Lebensgeschichte in sich, deren sie sich auf narrative Weise versichern. Diese können sich „negativ“ im Modus der Trauer (und damit der Verbundenheit mit dem Verlorenen) oder „positiv“ in Selbstwert- und Lebensleistungsäußerungen zeigen. Dabei ist es Aufgabe der Begleiter/-innen, auf das Sinnerfahrungspotenzial zu hören (z.B. „zum ersten Mal nicht im Weinberg“), das dabei mitgemeint ist. Hier sollte das innere Augenmerk der Begleitperson nicht primär den Defiziten und Belastungen im Schicksal der Patient/-innen gelten, sondern den meist implizit vorhandenen Sinn- und Identitätsressourcen, die die Belastungen tragen helfen.
Manche Schwerkranke haben auch direkte spirituelle oder religionsbezogene Fragen und Themen. Aber auch die werden in der Regel nicht auf direktem Weg z. B. nicht als Antwort auf das „Warum“ angegangen. Es ist Aufgabe der Begleitenden, auch bei „letzten“ Fragen als „erste Hilfe“ Ressourcen aus dem Leben eines Menschen aufzurufen. Dies geschieht in der Absicht, aus dem „Material“ der Identitäts- und Spiritualitätserfahrung ein „Nest“ für die Trauer zu bauen. Es gilt ein Nest zu finden, das das Schwere und Unbeantwortbare auffangen und bergen kann. Dies macht die existenzielle Herausforderung nicht weg. Ressourcen helfen aber, der Existenzbedrohung begegnen und gestärkt mit ihr leben zu können.
Menschen leben und sterben inspiriert von der Kraft ihres „inneren Geistes“. Und es ist eine unersetzliche Hilfe, wenn die Begleitenden dazu beitragen können, dass dieser innere Geist, die Spiritualität, in Resonanz kommt und sein Potential entfalten kann. – Natürlich erschöpft sich spirituelle Begleitung nicht im bloßen Wahrnehmen und Zuhören. Es bedarf vielmehr einer qualifizierten Resonanz durch die Begleitperson, damit der in der symbolischen Äußerung aufscheinende tiefere „Geist“ im Patienten, der Patientin wacher werden kann. Ein kranker Mensch kann dadurch die Erfahrung machen, dass seine indirekten Selbstmitteilungen mehr „Sinn“ zu erkennen geben, als es ihm zunächst bewusst war. – In Fortbildungen für die Gesundheitsberufe muss allerdings eigens vermittelt und geschult werden, welche Reaktionen in den beruflichen Alltagsbegegnungen möglich und hilfreich sind, damit durch „symbolic listening“ spirituelle Ressourcen entstehen.
Fazit
Die Prämisse vom „inneren Geist“ in jedem Menschen gestattet es, davon eine methodisch basierte Begegnungs- und Begleitpraxis abzuleiten, die allen patientenbegegnenden Berufen zugänglich ist und geschult werden kann. Wenn gilt, dass alle Menschen eine spirituelle Dimension – in welcher Form auch immer – in sich tragen, dann ist allerdings die Frage, ob diese wichtige Einsicht sich auch in Aus- und Fortbildungsformaten angemessen und ausreichend abbildet. Die einer inhaltlich spirituellen und religiösen Abstinenz verpflichteten medizinischen Berufe brauchen für Spiritual Care keine spezifische hermeneutische Kompetenz wie die Fachseelsorge. Für alle Professionen im Gesundheitswesen ermöglicht der Ansatz „innerer Geist“ Verstehens- und Begleitmöglichkeiten. Dafür bedarf es allerdings eigener, der jeweiligen Rolle angemessener Aus- und Fortbildungskonzepte in „gesundheitsberuflicher Spiritual Care“ (Peng-Keller 2020: 128 f). In diesem Beitrag konnte dies nur angedeutet werden; eine „Grammatik für Helfende“, in der die Themen und Möglichkeiten spiritueller Begleitung entfaltet werden, liegt in Weiher (2014) vor. Die hier vorgestellte Spiritual-Care-Konzeption hat sich in Schulungen für die Gesundheitsfachberufe (auch bereits im Medizinstudium (Q13)) und für die Seelsorge, auf Kongressen und Fachtagungen als überzeugend und anwendungstauglich erwiesen.
Auch für die „seelsorgliche Spiritual Care“ bedarf es über die klinische Seelsorgeausbildung (KSA) hinaus spezifischer, methodisch basierter Fort- und Weiterbildungsformen (vgl. z. B. die Mainzer „Fachweiterbildung in Seelsorge und Spiritual Care“). Denn auch die Seelsorge muss sowohl Menschen mit ausgesprochener Religiosität begleiten können als auch solche mit wenig strukturierter oder „schlafender“ Spiritualität (und das sind in der Nachmoderne immer mehr). Zum Selbstverständnis der Seelsorge gehört daher, sich bei allen Menschen auf die „Spur der Spiritualität“ zu begeben und deren Selbstmitteilungen in einem transzendenten Horizont zu sehen bzw. in diesen Horizont zu stellen. Was die Seelsorge spezifisch ausmacht, ist also eigens zu entfalten (Weiher 2017a).
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